Umgang mit digitalem Stress.
Veröffentlicht von Marcus Kuhn am
Digitaler Stress: Gekommen, um zu bleiben?
Von digitaler Flächenversiegelung und der Frage nach dem Lösungsweg
Wenn uns das letzte Jahr etwas gelehrt hat, dann dass jede Online-Stunde das Potenzial zu einem unverhofften Resilienztraining mit sich bringt. Nur zu oft geben sich marodierende Hardware und zickige Software mit wackeliger Internetverbindung die Klinke in die Hand. Kein Wunder, dass derzeit Alt und Jung über digitalen Stress klagen. Experimente zeigen, dass bereits längere Ladezeiten den Blutdruck ansteigen lassen und technische Störungen mit erhöhtem Cortisol einhergehen. Dazu kommt noch, dass wir, zumindest nach Medienwissenschaftler Bernhard Pröksen, zwar medienmächtig, nicht aber auch medienmündig sind. Gemeint ist damit, dass wir alle ständig digital kommunizieren (über E-Mails und in sozialen Netzwerken), aber dies noch relativ undifferenziert tun und uns im Allgemeinen auch nur schlecht abgrenzen können.
Das Gehirn ist wie ein Muskel und braucht Phasen der Entspannung
Die Problematik wurde interessanterweise bereits 1985 von Gilles Deleuze formuliert:
„Wir sind durchdrungen von unnützen Worten, von Unmengen dummer Bilder und Worte. Das Problem besteht nicht darin, die Leute zum Reden zu bringen, sondern Ihnen leere Zwischenräume von Einsamkeit und Schweigen zu verschaffen, von denen aus sie endlich etwas zu sagen hätten.“ (Deleuze in Odell, 2021).
Und so wundert es nicht, dass wir gut 35 Jahre später laut Prof. Dr. René Riedl im Durchschnitt täglich 75 Emails bekommen und 88 Unterbrechungen durchs Smartphone erfahren. Das klingt nicht nur viel, sondern ist es auch. Wir haben es inzwischen mit einer digitalen Flächenversiegelung zu tun. Unser Gehirn ist wie ein Muskel und braucht Phasen der Entspannung, doch wir geißeln uns inzwischen mit einer Dauerbeschallung. Kurze Phasen der Regeneration sind durch diese Flächenversiegelung nicht mehr automatisch gegeben, sondern müssen konsequent eingeplant und eingehalten werden.
Leichter gesagt als getan. Entsprechend klagen viele Menschen über (digitale) Stresssymptome: Schlafschwierigkeiten, Verdauungsprobleme, Gereiztheit, Nacken- und Rückenschmerzen, allgemeines Stressempfinden, chronisches Überforderungsgefühl und ein genereller Anstieg von den Stresshormonen Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin sind nur ein Ausschnitt aus einer längeren Liste bekannter Belastungen. Diese Stresssymptome zeigen große Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild Burn-out und sind daher nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Hier treffen sich dann schließlich auch die persönlichen Interessen und die des Arbeitgebers, beispielsweise der Schule. Die Schule als Organisation verfolgt klare Organisationsziele und benötigt für deren Umsetzung ihre Organisationsmitglieder. Wenn diese aber nun stressbedingt Gesundheitsprobleme erfahren, so sieht die Schule ihre Organisationsziele durch erhöhte Fehlzeiten und sinkende Motivation, Leistungsfähigkeit und Produktivität gefährdet. Stressreduzierung sollte also im Interesse der betroffenen Person sowie der betroffenen Institution sein. Die Frage ist daher nicht ob, sondern wie sich der digitale Stress reduzieren lässt.
Veränderungen als pragmatische Folge wiederkehrender Reize
Schwierig ist dabei, dass sich eine Mehrbelastung seit der hastigen Digitalisierung des Bildungssektors nicht von der Hand weisen lässt. Schließlich kommt zu den didaktischen Handlungsebenen des Fachlich-Inhaltlichen, des Methodisch-didaktischen und des Sozial-kommunikativen nun noch die vierte Ebene der Technik hinzu. Und da aller Anfang schwer ist und wir nur bedingt auf Erfahrungswissen zurückgreifen können, fallen erst einmal eine Menge Späne. Doch wie heißt es so schön: In jeder Krise liegt auch eine Chance. Und dennoch lässt sich mit ein bisschen Grübeln nicht ohne Weiteres die Topliste der allgemeingültigen Tipps gegen digitalen Stress formulieren.
Der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer konstatiert, dass es ein Irrglaube sei, dass Menschen einfach auf Ratschläge von Wissenschaftler:innen und Politiker:innen hören und diese dann gewissenhaft umsetzen, sondern diese zumeist höchstens zur Kenntnis nehmen. Vielmehr sind Veränderungen schleichend und oft die pragmatische Folge eines (meist wiederholten) Reizes – so auch der Digitalisierungsschub zum zweiten Lockdown.
Welche psychologischen Kniffe greifen?
Außerdem sind Veränderungen vor allem dann erfolgversprechend, wenn sie sich relativ problemlos in die Alltagsroutine integrieren lassen. Daraus lässt sich ableiten, dass wir stressreduzierende Verfahren und Maßnahmen möglichst barrierefrei in unsere Lebenswelt implementieren sollten. Hier muss sich jeder selbst die Frage stellen, welche psychologischen Kniffe bei einem selbst greifen und welche nicht. Ratschläge zum Abnehmen, wie etwa die Schokolade im Keller zu lagern und den Süßigkeitenverzehr zur bewussten Handlung zu ändern, lassen sich kreativ auf unsere Mediennutzung anwenden. Ob es aber nun hilft, dass die Kommunikationsapp der Arbeit auf die hinteren Seiten des Smartphones verbannt und nur durch gezieltes Wischen und nicht mehr zufällig noch abends beim Zähneputzen vor unserem Auge aufploppen, ist ein individueller Aushandlungs- und Abwägungsprozess.
Betrachtet man die Beschleunigung der digitalen Transformation, bekommen Räume für solchen kreativen Austausch zur Stressreduzierung eine umso höhere Relevanz. Dieser kann zwischen Tür und Angel, gezielt im Kollegium oder eben in unseren Online-Seminaren zum digitalen Stress oder E-Management stattfinden. Wir als Institut legen Wert darauf, uns klar von der Ratschlagindustrie zu distanzieren. Wir versuchen zwar Anregungen zu geben, doch grundsätzlich weniger vermeintlich „richtige“ Wege aufzuzeigen, als vielmehr Räume zu öffnen, in denen (in Kombination mit wissenschaftlichen Impulsen) eine kritische Reflexion der eigenen Arbeits- und Lebenswelt stattfinden kann. Denn am Ende definiert sich der Weg zur Problemlösung über einen eigens gewanderten Pfad des Erkenntnisgewinns, Wertens, Wägens und Probierens. Schließlich wird bei der Betrachtung dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung auch eines deutlich: Wenn sogar die Digital Natives über digitalen Stress klagen, dann wird uns dieses Problem noch eine ganze Weile begleiten.
Sechs Schritte zur Analyse eigener Stressbewältigungsmodi
Zum Abschluss wollen wir Ihnen noch unsere Anleitung in sechs Schritten mit auf den Weg geben, die Ihnen helfen können den Ursachen Ihres persönlichen digitalen Stresses und den eigenen Stressbewältigungsmodi auf die Spuren zu kommen. Im Kern steht hierbei das längst widerlegte Multitasking. Zu oft switchen wir ständig zwischen den Aufgaben und sind gestresst – ohne es anfangs vielleicht überhaupt zu merken.
Die Aufgabe besteht nun darin, an der eigenen Impulskontrolle zu arbeiten. Dies kann in sechs Schritten gelingen:
- Bestandsaufnahme: Reflektieren Sie, wann es Ihnen besonders schwerfällt, sich nur auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Wo entsteht der größte digitale Stress? In welchen Situationen nehmen Sie typische Reaktionsmuster an sich wahr?
- Pomodoro-Technik: Stellen Sie einen Wecker auf zum Beispiel 15 Minuten und erteilen Sie sich selbst den Auftrag, in dieser Viertelstunde nur an einer Aufgabe zu arbeiten. Unterdrücken Sie den Impuls, die Aufgabe oder den Fokus zu wechseln, indem Sie zu sich selbst „Stopp“ sagen.
- Mindset: Überprüfen Sie Ihre grundsätzliche Haltung gegenüber E-Mails, Messengerdiensten und Handys. Was passiert, wenn Sie nicht sofort reagieren? Solange Sie nicht im Rettungsdienst oder anderen Notfallbereichen tätig sind, wird nichts Schlimmes geschehen, wenn Sie eine Nachricht nicht sofort lesen oder gar beantworten. Wenn Ihr Gegenüber akute Not hat und dringend Hilfe braucht, wird er oder sie sich bei Ihnen sicherlich telefonisch melden.
- Digitale Öffnungszeiten: Richten Sie feste „Öffnungszeiten“ ein, in denen Sie online sind. Und machen Sie keine Ausnahmen während der Schließzeiten! Und verbinden Sie die Öffnungszeiten mit konkreten Aufgaben und Foki: Mal eben zu schauen, ob etwas Wichtiges oder Interessantes eingetroffen ist, führt zu einer Art „digitalen Flächenversiegelung“. Die digitale Dauerbeschallung verschließt unsere Tiefenwahrnehmung und verhindert, dass wir Gedanken einfach mal sacken lassen können. Stattdessen sollten wir zwischen digitalen Arbeits- und Freizeitphasen sowie Online- und Offline-Phasen unterscheiden.
- Verbindliche Regeln: Definieren Sie verbindliche Regeln im Umgang mit digitalen Medien. So könnten Sie zum Beispiel festlegen, dass das Smartphone grundsätzlich nicht ins Schlafzimmer gehört oder Sie es pro Tag mindestens einmal für eine oder zwei Zeitstunden ausschalten (viele Jugendliche haben noch nie ihr Smartphone ausgeschaltet).
- Indirektes Training: Impulskontrolle trainieren wir auch über Achtsamkeitstrainings, Yoga, Meditation & Co. Gleichzeitig erholen wir uns in diesen Zeiten vom digitalen Stress.
Weil ich es mir wert bin!
Als Lehrperson müssen wir uns immer wieder neu zwischen der Obligationszeit (Stundenplan, Konferenzen) und der Dispositionszeit (Unterrichtsvorbereitung, Klausurkorrektur) hin- und herbewegen. Durch Distanzlernen und Online-Unterricht ist diese ohnehin nur zarte Grenze weiter aufgeweicht. Die regelrechte Anspruchseskalation, welche den Lehrberuf schon vor Corona betraf und aktuell ganz sicher nicht zurückgegangen ist, führt regelmäßig dazu, dass die dritte Ebene, die Regenerationszeit, deutlich zu kurz kommt. Die Grenzziehung zwischen Arbeitszeit und Freizeit fällt in Zeiten digitaler Allgegenwärtigkeit verständlicherweise erheblich schwerer. Umso wichtiger also, klare Grenzen zu definieren und die eigene Impulskontrolle zu trainieren. Weil ich es mir wert bin!
- Riedl, René (2020): Digitaler Stress: Wie er uns kaputt macht und was wir dagegen tun können. Linde Verlag.
- Odell, Jenny (2021): Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. C. H. Beck.
- Krol, Beate (2020): Digitaler Stress im Job. Tipps von Arbeitspsychologen. Podcast: SWR2.
- Forschungswelten. Ein Spezial des Zeitverlags. Februar 2021.
- Gielas, Anna (2019): Digitaler Stress. Psychologie Heute
Unsere Autoren

Marcus Kuhn
Seit 10 Jahren entwerfe ich Konzepte und Projekte für Schulen und NGOs und biete Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften und Pädagog:innen. Bei IQUEL stärke ich meine Kund:innen zu allen Themen der Lehrerfortbildung - digital und vor Ort.

Dennis Sawatzki
Seit über zwölf Jahren bin ich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften tätig. Mir liegt die Veränderung von Lehr-Lernprozessen in unserem schulischen Bildungssystem sehr am Herzen. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, diese Fortbildungs- und Reflexionsprozesse professionell und nachhaltig zu unterstützen.
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